Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein
Daniel Günthers Muster-WG
Die Frauen in der gut gefüllten Holstenhalle sind meist deutlich älter als Daniel Günther. Auf den Rängen stehen einige extra auf, um dem 44-Jährigen mit dem jugendlichen Gesicht beim Landfrauentag in Neumünster zuzujubeln. Gegensätze ziehen sich an, heißt es. Und mit denen kennt sich der schleswig-holsteinische Ministerpräsident in der Jamaika-Koalition aus. Seit bald zwölf Monaten regiert er das Bündnis aus CDU, Grünen und FDP nahezu geräuschlos - indem er Gegensätze zulässt, aushält, überwindet.
In nur eineinhalb Jahren stieg er vom Ersatzkandidaten zum laut Infratest Dimap aktuell beliebtesten Länderregierungschef auf (zur NDR-Umfrage). Der eigentliche CDU-Spitzenkandidat, Ingbert Liebing, hatte kurz vor der Wahl 2017 hingeworfen, wegen anhaltend schlechter Umfragewerte. Günther sprang ein, die SPD-geführte Küstenkoalition unter Torsten Albig nahm ihn nicht ernst - und wurde abgelöst.
"Ist richtig", kommentiert Günther seinen Aufstieg trocken. Er spricht lieber von günstigen Gelegenheiten als von Karrierismus. Schon zum Oppositionsführer sei er eher unverhofft aufgestiegen, große Konkurrenz sei nicht da gewesen. Aber er wusste die Rolle auch zu nutzen, polarisierte etwa 2016 mit der forschen Forderung nach Schweinefleisch in Kantinen. Die Landespressekonferenz verlieh ihm eine "Populismus-Ente". Geschadet hat es ihm nicht.
Männliche Merkel
Heute übt sich Günther als Ministerpräsident der Mitte. Wirkte Vorgänger Albig abgehoben und arrogant, gibt sich der CDU-Mann offen und bürgernah. Die Landfrauen aus Bordesholm freuen sich, als der Regierungschef ihnen zum Selfie den Arm auf die Schultern legt. "Ich denke, dass er neuen Schwung reinbringt", sagte eine. "Das kommt gut an." Auch seine Minister weiß er zu inszenieren: Als eine geplante auswärtige Kabinettssitzung jüngst wegen Staus auszufallen drohte, wurde sie kurzerhand im Reisebus abgehalten - Facebook-Posts inklusive.
Politisch agiert Günther ein wenig wie eine männliche Merkel. Er steht für einen konservativ-aufgeschlossenen Kurs - mit Homoehe, Frauenförderung, aber auch für mehr innere Sicherheit. Anders als die Kanzlerin geht Günther auch mal Risiko: Im Wahlkampf setzte er in der CDU überraschend eine Rückkehr zum Abi nach Klasse 13 durch. "Manchmal muss man mit etwas Mut entgegenbürsten, wenn man eine bestimmte Überzeugung hat, und erst im Nachhinein erkennen die Menschen, dass es richtig war."
Überzeugt ist Günther auch vom Erfolg seiner Koalition der ungleichen Partner. Voraussetzung dafür ist jenseits des umfassenden Koalitionsvertrags, öffentlich unterschiedlicher Meinung sein zu dürfen - und das auch zu kommunizieren. "Es gibt drei sehr unterschiedliche Regierungspartner, die nicht den Anspruch haben, eins sein zu wollen", erklärt die grüne Finanzministerin Monika Heinold das Jamaika-Geheimnis.
"Wir haben als Landesregierung im Bundesrat einen Vermittlungsausschuss zum Familiennachzug von Flüchtlingen beantragt, und dort konnte ich die grüne Linie deutlich machen", sagt Heinold. "Bei der Abschiebehaft sagen wir Grüne jetzt, das Gesetz schmerzt uns, aber so haben wir es verabredet."
Das Gefühl, mit den eigenen Positionen in der Regierung ernst genommen zu werden, stellte sich für viele Grüne so schneller ein als früher in der Koalition mit SPD und SSW. Heinold spricht von einer "Wohngemeinschaft mit neuen Mitbewohnern".
Sich bloß nicht vorführen
Auseinandersetzungen werden in Günthers Muster-WG meist hinter verschlossenen Türen ausgetragen, in den wöchentlichen Jamaika-Runden. Jeden Montag, oft stundenlang, verhandeln Regierung und die sie tragenden Parteien und Fraktionen, angeführt von Günther, Heinold und FDP-Sozialminister Heiner Garg. Das Kalkül des Dreigestirns: Hauptsache, sich nicht gegenseitig öffentlich vorführen.
Inhaltlich geht es eher um Prioritäten als um Verteilungskämpfe. Ein Haushaltsüberschuss von aktuell 650 Millionen Euro lässt Extrawünsche zu. Es geht um den Ausbau des Kieler Fußballstadions, die Umstellung der Kita-Finanzierung, den Ostseetunnel von Fehmarn nach Dänemark und eine Neuordnung des kommunalen Finanzausgleichs. Schleswig-Holsteins Probleme würden sich andere Bundesländer wünschen.
Kein Wunder, dass die Bilanz der Koalitionäre nach einem Jahr positiv ausfällt. Garg führte dies zuletzt auf das "Vertrauenskapital" der Akteure zurück, die sich vorher gekannt hätten, "um auch schwierige Passagen zu meistern".
Womöglich, so der liberale Politiker, liegt es daran, dass "Kiel nicht Berlin ist". Die ideologischen Gräben seien in der Bundeshauptstadt tiefer. Günthers Versuche, die Jamaika-Sondierungen in Berlin wie in Kiel zu steuern, misslangen denn auch - ohne Folgen für das Kieler Bündnis.
Die Opposition, allen voran die SPD, tut sich im Norden schwer. "Ralf Stegner wird von vielen Wählern als jemand wahrgenommen, der ideologisch polarisiert und sich programmatisch stark abgrenzt", sagt der Kieler Politologe Wilhelm Knelangen. Die Jamaika-Vorschläge vereinigten dagegen auseinanderstehende Lager und sprächen auch Wähler von politischen Gegnern an.
FDP als Unsicherheitsfaktor
Gefahr droht dem Bündnis eher von innen. Wie einst in der bundesweit ersten Jamaika-Koalition im Saarland schwächelt auch in Schleswig-Holstein die FDP. Mit den sinkenden Umfragewerten könnten auch hier die Sticheleien unter den Koalitionären zunehmen. Der liberale Verkehrsminister Bernd Buchholz zog zudem zuletzt wegen des schleppenden Autobahnausbaus Kritik auf sich. Die FDP wird laut Knelangen "nicht in ihrem Markenkern wahrgenommen".
Christopher Vogt wiederum hat mit den großen Fußstapfen seines mehr als 30 Jahre älteren Vorgängers Wolfgang Kubicki zu kämpfen, der nach der Bundestagswahl nach Berlin gewechselt ist. Der neue FDP-Fraktionschef versichert zwar: "Ich bin im neuen Amt angekommen und klopfe auch nicht mehr aus alter Gewohnheit an die Tür." Doch Ende April attackierte einer aus seiner Fraktion Finanzministerin Heinold harsch wegen der Kosten der Rettung der HSH Nordbank. Das hatte es in der Kieler Kuschel-Koalition so noch nicht gegeben.
Der für Spätsommer geplante Weggang von Grünen-Promi Robert Habeck, derzeit Umweltminister, dürfte für die Kieler Regierung dagegen besser zu verkraften sein. Mit Jan-Philipp Albrecht steht ein vergleichsweise bekannter Nachfolger bereit - und der neue Grünen-Chef Habeck macht abseits seines Ressorts bereits seit Monaten vor allem Bundespolitik.
Günther will in Kiel bleiben
Ein Spagat, den mehr und mehr auch Regierungschef Günther wagt. In der Bundes-CDU zählt Günthers Stimme inzwischen zu den einflussreicheren. In der Partei, so sagt es Günther, wolle er sie immer dann erheben, "wenn der Drift nach rechts" drohe. Schließlich habe die CDU es dem Kurs der Mitte zu verdanken, dass sie "die einzige verbliebene Volkspartei ist". Das Kreuz für Parteipolitik instrumentalisieren? "Auf solch' eine Idee käme ich nicht", sagt der bekennende Katholik zum Erlass seines bayerischen CSU-Amtskollegen Markus Söder.
Bei den Landfrauen spielt eine Blaskapelle in Lederhosen. "Damit der Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein sich mal fühlen kann, wie sein Amtskollege aus Bayern", ulkt der Moderator. Tatsächlich klingt auch Günther, der konservative Kreise in seinem ländlich geprägten Landesverband ansprechen muss, manchmal noch ein bisschen nach CSU. Etwa, wenn er seine Forderung nach Recht auf Schwein verteidigt: "Die Menschen fragen sich durch den vermehrten Zuzug, bleibt meine Heimat so wie ich sie mag? Und an dieser Stelle gibt es schon eine Grenze der Toleranz."
FDP-Urgestein Kubicki hält Günther für den "Shootingstar der CDU", er selbst hat sich in einem Interview schon zur "Führungsreserve" seiner Partei gezählt. Kommt also bald der Wechsel nach Berlin? Günther, Vater einer zweijährigen Tochter, winkt ab: Er wolle 2022 wieder in Schleswig-Holstein antreten.