Drei Thesen zur WM
England hatte das Finale nicht verdient
Die Euphorie um Englands Nationalmannschaft war größer als ihre Leistung während der WM. Die Kroaten konnten sich auf ihre Führungsspieler verlassen - und haben deshalb auch im Finale gute Chancen.
Donnerstag, 12.07.2018
10:44 Uhr
1. England verpasst das Finale - und das ist gut so
Englands gern erlittene Vorrundenniederlage gegen Belgien erfüllte ihren Zweck: Nach Siegen gegen Tunesien und Panama kamen so dank des günstigen Turnierverlaufs noch zwei weitere gegen Kolumbien und Schweden hinzu. Mit diesen vier Erfolgen gegen Teams auf Augenhöhe oder darunter sammelten die jungen Spieler von Gareth Southgate Selbstbewusstsein für die kommenden Jahre.
Wie der Weg der Three Lions weitergeht, wird aber vor allem von den Lehren abhängen, die man aus den Spielen gegen Belgien und Kroatien zieht. Denn die reine Fokussierung auf einen starken Torhüter, Überzahl im Defensivverbund und Standardsituationen wird auf Dauer nicht genügen. Der Spielaufbau war sicherlich geordneter als bei der EM 2016 oder der WM 2014, deutlich besser war er allerdings nicht.
Gegen die von zwei Verlängerungen geschlauchten Kroaten kam das eigene Offensivspiel nach 30 Minuten nahezu völlig zum Erliegen, selbst Harry Kane war keine Anspielstation. Er konnte die Angriffe weder beruhigen noch forcieren. Und als sich ihm die Chance zum 2:0 bot, vergab er auf ungewohnte Weise. So steht Kane als Sinnbild eines Teams, das gegen Mannschaften aus der zweiten und dritten Reihe punkten konnte, von den großen Nationen allerdings weiterhin Abstand hält. Seine sechs Turniertore waren drei Elfmeter, zwei Abstauber und ein Treffer, bei dem er angeschossen wurde; die Gegner hießen Tunesien und Panama. Die Three Lions sind ein Versprechen auf die Zukunft. Wie groß dieses Versprechen tatsächlich ist, lässt sich aus dieser WM nicht ablesen.
2. Kroatien hat keine Spielidee, aber dafür die richtigen Spieler
Im Gegensatz zu den Engländern haben die Kroaten bei dieser WM zumindest ein überzeugendes Spiel gezeigt. Beim 3:0 gegen Argentinien in der Vorrunde bot das Team von Zlatko Dalic eine konzentrierte Defensivleistung, nahm Superstar Lionel Messi nahezu komplett aus der Partie und brillierte in der zweiten Hälfte mit starkem Umschaltfußball.
Ein grandioses oder gar innovatives taktisches Konzept haben die Kroaten nicht, aber sie können sich auf die individuelle Qualität ihrer Stars verlassen. Luka Modric, nicht zufällig vierfacher Champions-League-Sieger mit Real Madrid, ist der vielleicht beste Spieler der WM und hat mit Ivan Rakitic, Ivan Perisic und Mario Mandzukic drei Partner an seiner Seite, die ebenfalls seit Jahren bei internationalen Top-Klubs auf höchstem Niveau spielen.
Die Klasse dieser vier, gepaart mit einer kompakten Defensive sowie dem Tempo und der Unberechenbarkeit von Ante Rebic haben Kroatien verdientermaßen ins WM-Finale geführt. Und das muss noch nicht alles sein.
Danijel Subasic, Tor: Der Torwart aus Monaco war nach dem Krimi gegen Russland im Viertelfinale fraglich, konnte seine Oberschenkelverletzung aber rechtzeitig auskurieren. Das 0:1 fiel jedoch nicht, weil Subasic womöglich ein paar Prozent an Fitness gefehlt haben, der Freistoß von Kieran Trippier war für den Keeper schwer zu sehen und sehr platziert geschossen. Danach gab es weitere brenzlige Situationen, zwei davon wurden wegen angeblicher Abseitsstellungen zurückgepfiffen und so musste Subasic bis zum Ende der regulären Spielzeit nur noch selten eingreifen. Hatte in der Verlängerung Glück, als Sime Vrsaljko für den geschlagenen Torwart rettete (99. Minute).
Sime Vrsaljko, Abwehr: Der Rechtsverteidiger hatte im ersten Durchgang die meisten Ballkontakte in der kroatischen Mannschaft, was ein guter Beweis für die Überlegenheit Englands ist. Vrsaljko hat seine Stärken nicht im Spielaufbau, aber wenn er in der gegnerischen Hälfte am Ball war, lief es auch nicht besser. Alle vier Flanken kamen nicht zum Mitspieler, zudem gewann Vrsaljko nur einen von fünf Zweikämpfen. Dass eine weitere Flanke des 26-Jährigen, insgesamt schlug er neun, aus dem Halbfeld zum Ausgleich führte, ist der Treppenwitz dieses Spiels. Als er dann in der Verlängerung einen Kopfball von John Stones kurz vor der Torlinie wegköpfte, war Vrsaljko plötzlich so etwas wie Kroatiens Spieler des Spiels.
Dejan Lovren, Abwehr: Der englische Trainer Gareth Southgate hatte im Vorfeld die kroatische Innenverteidigung als Schwachpunkt ausgemacht, vor allem was die Schnelligkeit in Zweikämpfen gegen Raheem Sterling angeht. Deshalb spielten die Engländer viele lange Bälle, um Lovren, der als Profi des FC Liverpool bestens bekannt ist, in Verlegenheit zu bringen. Als er gegen Harry Kane dann mal direkt in den Zweikampf kommen wollte, hatte Lovren Glück, nicht die erste Gelbe Karte des Spiels gesehen zu haben (22.). Kam im Laufe des Spiel immer besser rein, was aber auch daran lag, dass England die Offensivbemühungen bis zum Ausgleich fast komplett einstellte.
Domagoj Vida, Abwehr: Der zweite Innenverteidiger hatte weniger mit der Schnelligkeit der englischen Angreifer, sondern mehr mit dem unversöhnlichen russischen Publikum zu kämpfen. Nach dem Erfolg im Viertelfinale gegen Russland hatte Vida in einem Videoclip "Ruhm der Ukraine" gerufen und sich so den Zorn der Zuschauer im Luschniki-Stadion zugezogen. Vida wurde bei Ballbesitz ausgepfiffen, ließ sich davon aber nicht beeindrucken und spielte seine Rolle mit viel Routine runter. War insgesamt der bessere Innenverteidiger, der wie schon im gesamten Turnier fast ohne Foulspiel auskam. Vida küsste nach dem Tor von Mandzukic einen Fotografen, mehr musste er in der Verlängerung nicht machen.
Ivan Strinic, Abwehr (bis 95. Minute): Je länger das Spiel dauerte, umso mehr verlegte Kroatien die Angriffe auf die linke Seite. Das lag an Rebic, der von rechts hinüberwechselte, das lag aber auch am lange indisponierten Vrsaljko. Dessen Gegenüber Strinic machte aus seinen Freiheiten auf links etwas mehr, hätte aber mit einem Fehlpass in der 22. Minute fast einen zweiten Gegentreffer verschuldet, wenn Sterling etwas mehr Mut zum Abschluss gehabt hätte. Strinic hätte nach einem Doppelpass mit Rebic die erste Großchance der zweiten Hälfte vorbereiten können, sein Querpass war aber viel zu ungenau (58.). Schleppte sich gegen Ende der regulären Spielzeit nur noch über den Platz und musste in der Verlängerung ausgewechselt werden.
Josip Pivaric, Abwehr (ab 95. Minute): Der Abwehrspieler von Dynamo Kiew ersetzte Strinic und wurde auch auf links eingesetzt, beschränkte sich aber vor allem auf die Defensive. Pivaric wurde in der zweiten Hälfte der Verlängerung immer mutiger und setzte zu zwei starken Sololäufen an.
Marcelo Brozovic, Mittelfeld: Trainer Zlatko Dalic wählte gegenüber dem Sieg gegen Russland mit Brozovic statt Andrej Kramaric die etwas defensivere Variante und hoffte auf weniger Ballbesitz, um nicht das Spiel machen zu müssen. Diese Rechnung ging dank des frühen Rückstands nicht auf, wofür Brozovic nichts kann. Der Profi von Inter Mailand war in der Folge darum bemüht, Struktur in den Spielaufbau zu bringen, was ihm auch gelang. Kroatien gestaltete das Spiel nach 20 Minuten offener, was auch an Brozovic lag. Nach der Pause dann ein intelligenter Ballverteiler.
Ante Rebic, Mittelfeld (bis 101. Minute): Den Pokalheld von Eintracht Frankfurt kann so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Und so hatte Rebic dann auch als erster Kroate den frühen Rückstand abgehakt, auf der rechten Seite führte er packende Zweikämpfe mit Ashley Young und kam zu zwei guten Schusschancen (21./32.). Wechselte später mit Ivan Perisic die Seite, was seinem Spiel nicht so entgegenkam. Rebic fehlte der "Bruda" im kroatischen Mittelfeld, der ihn richtig in Szene setzt. Sah nach einem Foul in der Verlängerung die Gelbe Karte.
Andrej Kramaric, Mittelfeld (ab 101. Minute): Der Hoffenheimer kam für seinen Bundesliga-Kollegen Rebic und hatte gleich eine gute Schusschance, wurde aber geblockt (106.). Vergab in der Schlussminute freistehend die endgültige Entscheidung.
Luka Modric, Mittelfeld (bis 119. Minute): Wenn es einen Star in dieser ausgeglichen besetzten kroatischen Mannschaft gibt, dann ist es der vierfache Champions-League-Sieger. Doch das Spiel ging denkbar schlecht los für Modric, nach seinem Foul an Dele Alli ging England durch das Freistoßtor von Trippier in Führung (5.). Die kroatische Passmaschine kam im weiteren Verlauf der ersten Hälfte nur wenig zur Geltung, 24 Ballaktionen in 45 Minuten sind für Modric ein unterirdischer Wert. Nach der Pause wurde der Einfluss von Modric größer - und das Spiel dieser zähen Kroaten immer besser.
Milan Badelj, Mittelfeld (ab 119. Minute): Kam für Modric, sah und siegte einfach mit.
Ivan Rakitic, Mittelfeld: Mit seinen beiden Kühlschrank-Elfmetern hatte Rakitic seine Mannschaft gegen Dänemark und Russland jeweils eine Runde weiter geschossen. Ansonsten war er bisher im WM-Verlauf eher in der Defensive gebunden, um Modric mehr Freiheiten einzuräumen. Das war gegen England etwas anders, auch weil Modric nicht ins Spiel kam und Rakitic deshalb etwas mehr für die Offensive tun konnte. Wirklich effektiv war das aber in den seltensten Fällen. Gerade Rakitic machte nach zwei Spielen über 120 Minuten einen kaputten Eindruck. Bekam dann aber nach dem Ausgleich, den er mit einer schönen Verlagerung einleitete, wie alle seine Kollegen, die achte Luft bei dieser WM.
Ivan Perisic, Mittelfeld: Es dauerte bis zur 19. Minute, ehe Kroatien das erste Mal gefährlich vor das Tor von Jordan Pickford kam. Der ehemalige Bundesligaprofi von Borussia Dortmund und dem VfL Wolfsburg zog von seiner linken Seite ins Zentrum, der Abschluss landete jedoch nur am Außennetz. Kroatien wollte mit Perisic und Rebic das Spiel breitmachen, was aber lange Zeit nicht den gewünschten Erfolg brachte. Perisic war es dann, der den Ausgleich erzielte (68.), manche sagen artistisch, andere sagen mit gefährlichem Spiel, was den Videoassistenten aber nicht auf den Plan rief. Wenig später traf Perisic auch noch den Pfosten und hätte fast das gesamte Spiel gedreht, was er mit der Vorlage zum Mandzukic-Tor nachholte.
Mario Mandzukic, Angriff (bis 115. Minute): Es war eine undankbare erste Hälfte für den Angreifer von Juventus, der mit Abstand die wenigsten Ballkontakte hatte und keinen Torschuss verzeichnen konnte. Mandzukics Frust war spürbar, als er direkt nach der Pause nach einem Pfiff des Schiedsrichters den Ball ins Seitenaus faustete und dafür die Gelbe Karte sah (48.). Mandzukic gewann viele Kopfballduelle und kam in der 83. Minute dann zu seinem ersten Torschuss, den Pickford aber parierte. Noch besser machte es der Torwart in der Nachspielzeit der ersten Hälfte in der Verlängerung, als er im Fünfmeterraum gegen Mandzukic zur Stelle war. Entwischte Stones und Harry Maguire dann einmal - und erzielte den 2:1-Siegtreffer. Manchmal werden Stürmer für ihre Beharrlichkeit belohnt.
Vedran Corluka, Abwehr (ab 115. Minute): Brachte den Sieg dieser unkaputtbaren kroatischen Mannschaft als zusätzliche Absicherung mit über die Zeit.
3. Das Finale wird nicht schön, aber selten
Wer vor Beginn der Weltmeisterschaft auf ein Endspiel zwischen Frankreich und Kroatien gewettet hätte, wäre jetzt vermutlich ein reicher Mann. Die Franzosen konnte man im Finale erwarten, um die Kroaten dort zu sehen, brauchte es schon besondere Weitsicht. Genau das könnte jetzt zum großen Vorteil des Teams von Trainer Dalic werden.
Der Druck lastet voll und ganz auf der Équipe Tricolore. Genau wie 2016, als die Franzosen im eigenen Land Europameister werden wollten - und das Endspiel gegen den krassen Außenseiter Portugal verloren. Nun hat sich die französische Nationalmannschaft in den vergangenen zwei Jahren weiterentwickelt. In der Verteidigung stehen "Les Bleus" noch sicherer, und offensiv haben sie mit Kylian Mbappé eine explosive Waffe hinzubekommen.
Trotzdem war das Halbfinale gegen Belgien nicht das erwartete Fußballfest, sondern eine von der Deschampschen Defensivtaktik geprägte Partie, bei der eine Standardsituation für die Entscheidung sorgte. Ähnliches steht für das Finale zu befürchten. In erster Linie wird es beiden Mannschaften darum gehen, keine Fehler zu begehen. Am Ende werden Nuancen entscheiden. Die Franzosen sind der natürliche Favorit, weil sie insgesamt besser besetzt sind. Aber Kroatien kommt mit Modric, Rakitic, Perisic, Mandzukic und dem Selbstvertrauen aus drei nach Rückstand noch gedrehten Partien in der K.-o.-Phase.
Drei Elfmeterschießen in vier K.-o.-Spielen: Fans von England und Kroatien erlebten auf dem Weg ins WM-Halbfinale schon mehrere Krimis. Im Duell um das Endspiel sollte es erneut spannend werden.
Das lag vor allem an Kieran Trippier. Mit einem sehenswerten Freistoßtreffer brachte der Verteidiger England in Führung - nach nur fünf Minuten.
Zu Recht ließ sich der Torschütze im Anschluss feiern. Von Englands zwölf Turniertoren war es bereits der neunte Treffer nach einer Standardsituation.
Auch in der Folge blieb England das gefährlichere Team. In der 30. Minute scheiterte Harry Kane jedoch erst an Kroatiens Keeper Danijel Subasic, dann am Pfosten. Allerdings entschied der Schiedsrichter im Anschluss auf Abseits.
Von Kroatiens Superstar Luka Modric war im ersten Durchgang wenig zu sehen. Auch deshalb verließ sein Team nach 45 Minuten ohne einen einzigen gefährlichen Abschluss das Feld.
Auch in der zweiten Halbzeit taten sich die Kroaten zunächst schwer. England stand sicher.
Es dauerte bis zur 65. Minute, ehe die Kroaten wirklich gefährlich wurden. Und drei Minuten später durften sie jubeln.
Mit einer artistischen Volleyabnahme brachte der Angreifer sein Team zurück ins Spiel. Der Ausgleichstreffer beflügelte die Kroaten, doch in der regulären Spielzeit kamen sie zu keinem weiteren Treffer - wie auch England. Zum dritten Mal in Folge ging es für Kroatien in die Verlängerung.
Dort wurde Mario Mandzukic schließlich zum entscheidenden Mann. Nach Kopfballvorlage von Perisic schaltete der Mittelstürmer am schnellsten und erzielte aus kurzer Distanz den 2:1-Siegtreffer.
Damit steht Kroatien zum ersten Mal in der Landesgeschichte in einem WM-Finale. Dort trifft das Team auf Frankreich.
Für England und Kapitän Harry Kane bleibt dagegen nur das Spiel um Platz drei gegen Belgien.