Historischer Stromausfall
Der große Blackout
Radio-DJ Dan Ingram saß im Studio des Senders WABC 77 und spielte gerade "Everyone's gone to the Moon", eine Schnulze von Jonathan King, als der Plattenspieler zu leiern begann. Ingram überspielte die Panne vor seinen Zuhörern mit einem Scherz und leitete zu den Nachrichten über - da begannen plötzlich die Studiolichter zu flackern.
Auch draußen in der Millionenstadt New York gingen in diesem Moment, am 9. November 1965 um 17:27 Uhr, die Lichter aus. Alle. Mitten in der Rushhour erloschen die Ampeln, wurden die Fenster der Wolkenkratzer schwarz, blieben die Fahrstühle im Empire State Building stecken und an der Börse die Tafeln mit den Kursen leer. Wie auf ein geheimes Zeichen. Im Untergrund fuhren die Züge erst noch stotternd, standen dann still. 800.000 Menschen waren so an diesem Dienstag in nachtschwarzen Tunneln gefangen, wie der Nachrichtensender "NBC" berichtete. Schnell merkten sie: Dies würde nicht nur eine Minute dauern.
Noch nie hatten die USA einen solchen Stromausfall erlebt: von New York, Massachusetts und Connecticut über New Hampshire, Rhode Island, Vermont bis hoch ins kanadische Ontario. Noch Jahrzehnte später diskutieren Zeugen des unheimlichen Ereignisses ihre Erlebnisse im Internet.
So erinnert sich ein Internetnutzer unter Nachrichtenausschnitten der Nacht auf YouTube, wie seine Mutter den Toaster herunterdrückte, in dieser Sekunde die Lichter in der ganzen Straße ausgingen und der Vater rief: "Um Gottes Willen, was hast du getan?" Andernorts hatte der Ausfall ernstere Folgen: Im St. Vincent's Hospital fand gerade eine komplizierte Gehirn-Operation statt. Zwecks Fortsetzung musste die Polizei ein Notstrom-Aggregat liefern.
War's ein Atomschlag? Das Militär prüfte eilig
Präsident Lyndon B. Johnson erreichten die Nachrichten vom Total-Blackout auf seiner Ranch in Texas, wo er sich von einer Gallenblasen-OP erholte. Sein erster Anruf ging an Buford Ellington, Chef des Notstandsplanungsbüros; dann rief er Verteidigungsminister Robert McNamara im Pentagon an.
Schnell wurde über den heißen Draht nach Moskau geprüft, ob ein Missverständnis oder ein Angriff vorliege. Mannschaften der Atomraketensilos wurden kurzfristig in Alarmbereitschaft versetzt, nachdem ein Air-Force-Oberst Atombombendetonationen auf seinem Schirm gesehen haben wollte. Fieberhaft berief Johnson Blitzkonferenzen ein. Beim FBI und beim Militär sollten Notfallstäbe klären, ob ein Atomschlag schuld sein könne. Und in New York ließ er das Ausschenken von Alkohol in Restaurants verbieten, um die Lage ruhig zu halten.
Über der Metropole schien derweil ein heller Vollmond und spendete der gespenstischen Szenerie ein wenig Licht. Flugzeuge drehten Schleifen über der Stadt, die Passagiere starrten nach unten in die Dunkelheit: Jede Landung schien unmöglich. Auch der schwedische Ministerpräsident Tage Erlander kreiste stundenlang über New York. Eine andere Maschine konnte zwar zum Landeanflug ansetzen - doch dann verschwanden die Lichter der Landebahn. Ein Pilot erinnert sich an seine damaligen Sorgen: "Ich dachte, ein neues Pearl Harbour."
Im NBC-Fernsehstudio liefen die Reporter derweil zur Hochform auf und versuchten, mithilfe von Kerzen und Notstromgeneratoren weiter zu berichten. Anchorman Frank McGee konnte seine Schrift kaum lesen. Die Flamme vor seinem Gesicht warf flackernde Schatten, während die Live-Schalten des Pentagon-Korrespondenten immer wieder zusammenbrachen.
Ufos gesichtet
Die "New York Times" schickte Reporterlegende Peter Kihss los und produzierte eine zehnseitige Notausgabe für den kommenden Tag. Radio-DJ Dan Ingram hatte Glück: Nach nur 15 Minuten liefen die Notstromgeneratoren. Auch die meisten anderen Stationen konnten binnen wenigen Minuten wieder senden, während ihre Hörer im Dunklen an batteriebetriebenen Radios hockten. Der sowjetische Nachrichtendienst Tass tickerte höhnisch, die Bevölkerung sei ruhiger gewesen als das Pentagon selbst.
In New York regelten derweil selbsternannte Hilfspolizisten den Verkehr. Vor allem Taxis fuhren noch, Busse konnten umsonst benutzt werden. In der Dunkelheit kamen Menschen, bei beinah fröhlicher Stimmung. In Harlem tanzten Jugendliche um brennende Mülleimer, einige riefen scherzend: "Die Russen kommen."
Andernorts herrschte Chaos: Weil keine Züge fuhren, schliefen viele Menschen in der Grand Central Station. Im Staatsgefängnis von Massachusetts kam es gar zu einem Gefangenenaufstand.
Zwölf endlos lange Stunden lag Dunkelheit über dem Nordosten Amerikas. Als endlich am 10. November gegen 7 Uhr morgens langsam der Strom zurückkehrte, fragten die Menschen, warum es so lange gedauert hatte.
Die Legende von der Nacht der Liebe
Es kursierten die wildesten Theorien: Mehrere Ufo-Sichtungen wurden gemeldet. So sorgte ein besonders helles Licht bei Syracuse für Spekulationen. NBC-Nachrichtenmann Frank McGee verlas sogar, ein Privatpilot habe ein "rundes, glühendes Objekt" im Norden der USA gesehen. Selbst die "New York Times" griff diese Gerüchte auf. Zumindest die Meldung aus Syracuse konnte aufgeklärt werden: Der helle Schein war wohl ein Lichtbogen, der zwischen einer Hochspannungsleitung und einem Baum übergesprungen war.
Tatsächlich hatte der gigantische Stromausfall banalere Gründe als das Wirken außerirdischer Mächte: Er ging vermutlich auf Wartungspersonal zurück, das ein Schutzrelais falsch eingestellt hatte. Um 17:16 Uhr muss es bei den Niagarafällen begonnen haben. Eine Leitung war ausgefallen und hatte die umliegenden Netze überlastet, Sekunden später waren die Leitungen von Massachusetts nach Boston tot. Wie ein Dominoeffekt hatte sich die Überlastung ausgebreitet, bis nach vier Minuten das gesamte nordöstliche Amerika ohne Elektrizität war.
Obwohl die Nacht des Blackouts beileibe nicht romantisch war, sollen der Legende zufolge neun Monate danach besonders viele Babys auf die Welt gekommen sein. Eine Studie des Wissenschaftlers J. Richard Udry zeigte 1970 aber, dass dies nicht stimmt: Lediglich in einigen Krankenhäusern war es zu mehr Geburten gekommen, jedoch ausgeglichen durch niedrige Geburtenzahlen in anderen Häusern - die New Yorker hatten die düsteren Stunden also nicht unbedingt zum Schäferstündchen genutzt.
Immerhin: Das wohl berühmteste Licht Amerikas war während des großen Blackouts nicht erloschen. Die Fackel der Freiheitsstatue strahlte das Licht der Freiheit auch in der Nacht des 9. November in die Metropole - der Strom kam nämlich aus New Jersey.