NS-Verbrechen
"Die Kinder spielten im Leichenkeller"
Natürlich weiß ich über die Sache vor 1945 Bescheid, jeder im Dorf weiß es. Ich habe früh mitbekommen, was in der Nähe meines Heimatortes passiert ist. Die Älteren erzählten schlimme Geschichten. Von Schubkarren, mit Leichen beladen, die in den Wald geschoben wurden. Oder von der Baracke mit einem Keller voll toter Menschen.
Geboren bin ich 1948 in Münchhofe bei Lieberose, also nur ein paar Kilometer vom Lager entfernt. Zu diesem Zeitpunkt wurde es schon von den Sowjets genutzt. Die haben es direkt von den Nazis übernommen. Als ich ein Kind war, hatten wir einen Bauernhof. Mein Vater erzählte manchmal von den Menschen, die während des Krieges immer an unserem Feld entlang gescheucht wurden. "Jung oder alt, sie sahen alle gleich aus", sagte er, so ausgezehrt waren sie.
Einmal im Herbst, so erzählte er, lagen auf dem Acker noch ein paar übriggebliebene Rüben. Eine Frau riss sich los, wollte nach ihnen greifen. Sie wurde sofort zurück in die Gruppe gejagt. Mein Vater rief zu den Soldaten: "Lass' sie doch, die Rüben braucht keiner mehr." Der Soldat erwiderte: "Du kannst auch gleich mitkommen." Da hat mein Vater nichts mehr gesagt.
"Du wirst erschossen"
Auch mein älterer Bruder hat als kleiner Junge Schreckliches mit angesehen. Es war im Februar 1945, als die Gefangenen auf ihrem Todesmarsch nach Sachsenhausen strömten. Überall wurden sie durch die Dörfer getrieben. "Die trugen nur Lappen an den Füßen", sagte mein Bruder. Er beobachtete, wie eine Frau an einem Haus haltmachte und um Wasser bat. Sofort wurde sie von einem SS-Mann zurückgezogen. Er prügelte mit einem Stock auf ihren mageren Rücken ein, immer wieder, bis der Stock zerbrach. Dann packte er die Frau, um ihre Häftlingsnummer zu lesen. "Du wirst erschossen", rief er.
Meine Mutter sprach mit mir oft über das Lager. Während des Krieges wohnte nämlich die Familie eines SS-Mannes in unserem Haus, noch vor meiner Geburt - der Soldat, seine Frau und ihr Baby, über ein Jahr lang. Viele Dorfbewohner beherbergten Soldaten; nach dem Krieg quartierte man Flüchtlinge ein. Meine Mutter hat mir erzählt, wie sie einmal in den Stall ging, um die Kühe zu melken. Da traf sie auf die Frau des SS-Mannes. Die weinte und sagte, sie müsse sich etwas von der Seele reden, etwas Furchtbares sei geschehen. Bei den Baracken am Waldrand hätten die Offiziere des Lagers stundenlang zusammengesessen und sich betrunken, berichtete die Frau meiner Mutter. Anschließend habe man die ganze Nacht lang Schüsse gehört. "Wir werden alle irgendwann dafür bestraft", sagte die Frau zu meiner Mutter.
1976 zogen mein Mann und ich in unser Haus nach Jamlitz. Eigentlich wollte ich gar nicht so nah am Hügel wohnen. Denn hinter dem Hügel, da begann das Lager. Viel übrig ist davon nicht mehr, irgendwann wurde alles abgerissen. In der DDR hörte man wenig über die Nazis. Ich war ganz froh darüber. Endlich kehrte Ruhe ein. Die Baracken verschwanden, die Grundstücke wurden verteilt, neue Schrebergärten und Häuser gebaut.
Stahlhelme unterm Gartenzaun
Die Ruinen des Leichenkellers sind aber noch immer da. Sie gehören zur Dokumentationsstätte über das sowjetische Speziallager, das nach dem Ende der DDR errichtet wurde. Man sieht nur noch Mauern, Laub und Erde. Meine Jungs sind da mal reingeklettert, als sie noch kleiner waren. Ich mag den Ort nicht.
Trotzdem lebe ich gern in Jamlitz. Ich bin stolz auf unser Haus, wir haben alles selbst gebaut - die Garage, die Terrasse und den Anbau für meinen Sohn und meine Schwiegertochter. Manchmal werden wir trotzdem an die Vergangenheit erinnert. Als mein Mann den Boden für den Gartenzaun aushob, fand er plötzlich etwas in der Erde. Ein paar zerbrochene Schüsseln und zwei Helme aus Stahl. Die Helme haben wir dann zum Schrotthändler gebracht. Aber meine Jungs sind gleich zum Schrottplatz gerannt und haben mit den Stahlhelmen gespielt. Ich habe sie ihnen schnell wieder weggenommen.
Unsere Nachbarin fand einmal ein paar Zähne, als sie in den Beeten buddelte. Sie lebt schon eine ganze Weile nicht mehr, aber seit ein paar Tagen sind nun Archäologen auf ihrem Grundstück und suchen nach einem Massengrab von damals. Hunderte Opfer aus dem Lager sollen noch immer in der Erde verscharrt sein. Die Kinder im Dorf fahren mit dem Fahrrad herum und freuen sich über den Bagger. Zum Glück wissen sie nicht, wonach gesucht wird. Ich denke aber, dass junge Leute die Vergangenheit verstehen sollten. In all den Jahren habe ich nur einmal eine Schulklasse gesehen, die sich die Dokumentationsstätte angeschaut hat. Dabei liegt die Geschichte doch hier vor der Tür.
Protokolliert von Annett Meiritz