Erste Hilfe Karriere
Dr. Service und Mr. Boss

Ganz große Show: Chefs wissen, was wir hören wollen - und halten sich oft nicht daran
Die meisten Chefs sagen kluge Dinge, besonders in Gegenwart von Mikrofonen. Zum Beispiel: "Die Zufriedenheit des Kunden steht bei uns an erster Stelle. Wir wünschen uns Mitarbeiter, die alles tun, diese Zufriedenheit zu steigern."
Große Chefreden verfehlen ihre Wirkung selten - wenn es zum Beispiel darum geht, Aktionäre zu blenden. Besuchen Sie mal eine Hauptversammlung. Hollywood ist dagegen Kasperletheater. Der Vorstandsvorsitzende, Hauptdarsteller und Regisseur, kann sein Publikum förmlich in Hypnose reden. Jede Totenglocke, die eine Fusion begleitet, wird den ahnungslosen Aktionären zur Hochzeitsglocke schöngeredet.
Doch mit solchen Blendemanövern verhält es sich wie beim Autofahren: Andere kann man blenden - aber niemanden im eigenen Wagen! Die Mitarbeiter sind Beifahrer, können täglich prüfen: Geht die gesprochene Führungskultur mit der gelebten Hand in Hand? Treffen sich beide wenigstens ab und zu? Oder fahren sie, wie zwei Schiffe im Nebel, aneinander vorbei?
Ein Blick in den Alltag zeigt, warum die Glaubwürdigkeit von Chefs oft so gering und der Frust ihrer Mitarbeiter so groß ist. Denn im Mittelpunkt steht alles Mögliche - nur nicht der viel gepriesene Kunde. Vor ein paar Jahren habe ich die stellvertretende Filialleiterin eines Elektrounternehmens beraten, nennen wir sie Britta Hensler.
In den letzten Wochen waren immer mehr Beschwerden auf die Mittfünfzigerin eingeprasselt. Eine Digitalkamera der Hausmarke erzürnte die Kunden. Ob Einschulung, Geburtstagsfeier oder Urlaubsreise - die Fotos von einmaligen Momenten verschwanden unwiederbringlich wegen eines Elektronikfehlers. Ein alter Kunde knallte aus Verärgerung einen Fernseher, den er zusammen mit der Kamera gekauft hatte, so heftig auf den Tresen, dass auch dieses Gerät zum Reklamationsfall wurde.
"Sind Sie für dieses Robin-Hood-Spiel nicht zu alt?"
Die Luft brannte, und die Filialleiterin schlug Alarm. Doch in der Zentrale hielt man sich die Ohren zu. Mehrere Anrufe bei ihrem Chef führten zu nichts, mehrere E-Mails blieben ohne Antwort. In ihrer Not schrieb Hensler einen Brief an den Generalbevollmächtigten, fasste Kundenbeschwerden zusammen und wies auf den Schaden für das Unternehmen hin.
Ein kleines Wunder geschah: Sie wurde für ein Einzelgespräch in die Zentrale bestellt, allerdings vom Bezirksleiter. Seine Stimme klang schon bei der Begrüßung so kalt wie das Klirren von Eiswürfeln im Whiskeyglas. Sarkastisch begann er:
"Mal unter uns: Sind Sie für dieses Robin-Hood-Spiel nicht ein wenig zu alt, Frau Hensler?"
"Robin Hood?"
"Nun, Sie gefallen sich wohl in der Rolle der Kämpferin für die Armen und Unterdrückten."
"Es würde mir viel mehr gefallen, wenn die Kunden zufrieden wären."
"Und mir würde es gefallen, wenn ich wüsste: Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, Frau Hensler?"
"Wie meinen Sie das?"
"Nun, in Ihrem Brief klingen Sie wie die juristische Vertreterin der Reklamierenden."
"Aber ich habe doch nur weitergegeben..."
"Genau das ist das Problem! Sie machen sich nicht nur die fremde Argumentation, sondern auch die unverschämte Tonlage zu eigen. Schon mal was von kritischer Distanz gehört? Schon mal darüber nachgedacht, wer Ihnen jeden Monat das Gehalt überweist?"
Britta Hensler wies darauf hin, dass diese "Reklamierenden" wertvolle Kunden seien, teils seit Jahrzehnten. Und dass sie dem Unternehmen seinen Gewinn brächten. Worauf ihr Chef konterte: "Vielleicht kennen Sie Ihre Kunden tatsächlich zu lange. Vielleicht täte Ihnen eine Versetzung in eine andere Stadt gut."
Lieber den Chef als den Kunden zufriedenstellen
Die stellvertretende Filialleiterin verstand die Drohung - und belästigte ihre Vorgesetzten in der Zentrale nie wieder mit der Meinung ihrer Kunden.
Vielleicht ist das ein Schlüsselproblem: Kennen Sie ein Unternehmen, wo die Kunden über das Schicksal der Mitarbeiter entscheiden; wo die Kunden einstellen und entlassen, befördern oder Gehälter erhöhen dürfen? Nein, diese Macht haben nur die Chefs. De facto werden Mitarbeiter nicht an der Zufriedenheit ihrer Kunden gemessen - sondern an der ihres Vorgesetzten.
Und was passiert mit der Motivation der Mitarbeiter, wenn die merken: Der Chef meint nicht, was er sagt, und sagt nicht, was er meint? Wenn ihnen klar wird, dass die Wahrheit unter die Räder kommt und der Kunde die letzte Geige spielt? Wenn sie jede Dummheit begehen und jeden eigenen Gedanken unterdrücken müssen, sofern ihr Chef es verlangt?
Die Mitarbeiter stumpfen ab. Statt ihren Kopf zu gebrauchen, werden sie zu Handlangern, zu Arbeitsautomaten, zu Motivationsleichen. Was die Chefs wiederum beklagen - aber mit welchem Recht?