Schuhe als Kulturkonflikt
Fußscham - ein Teil deutscher Leitkultur

Schuhe vor der Tür ausziehen - ist das typisch deutsch? Oder türkisch?
Ich liebe das Sommerloch. Wenn Politiker in den Urlaub fahren und die Theater schließen, kommen in Zeitungen mal andere Themen an die Reihe. Zum Beispiel die Frage: "Bin ich ein Spießer, wenn ich Gäste bitte, ihre Schuhe auszuziehen?" Vor Kurzem hat die "Bild am Sonntag" auf der Titelseite (!) eine dialektische Abhandlung dazu angekündigt. Ich meine das nicht ironisch: Ich finde das wirklich spannend. Denn als Frau vom Stamm der Türken begleitet mich die Frage von Straßenschuhen in der Wohnung schon ein Leben lang.
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob die Bitte, Schuhe auszuziehen, "spießig" rüberkommen könnte. Mit schmutzigen Stiefeln auf dem Teppich der Gastgeber*in rumzulaufen, ist für mich eher "Punk" und wer Wert auf einen sauberen Boden legt, vernünftig. Aber das hängt wohl vom kulturellen Standpunkt ab.
Ich zum Beispiel bin damit aufgewachsen, dass Straßenschuhe gleichbedeutend sind mit Straßendreck und dass man den als anständige Familie draußen lässt. Deswegen gibt es Hausschuhe. Jede türkische Familie hält einen Vorrat an Pantoffeln bereit, der auf wundersame Weise immer genau so groß ist wie die Zahl der Besucher. Es gibt sie in allen Farben und Formen und für jeden Anlass, mit Pailletten oder Schottenkaro. Als integrierte Halbhipster-Turkodeutsche habe ich nur fünf Paar, darunter einfache Hotel-Slipper und - extra für meine Kartoffelfreunde - auch Birkenstock-Sandalen.
Puschen tun der anatolischen Männlichkeit nichts ab
Keimfreiheit galt bei uns als Tugend. Vermutlich wurde der Werbeslogan "kraftvolle Hygiene" (Domestos) für unsereins erfunden. Aber vermutlich ist das einer der wenigen Punkte, bei denen wir Migrationshintergründler im klaren Vorteil sind: Bei uns legt man den Reinlichkeitsfimmel nicht als Spießertum aus. Er wird als kulturelle Marotte abgehakt. Die meisten meiner Gäste fragen gar nicht erst, ob sie die Schuhe ausziehen sollen, sie zeigen "interkulturelle Kompetenz" und streifen ihre Treter ab. Als Zeichen meiner interkulturellen Kompetenz bringe ich ihnen dann ungefragt die Birkenstocks. Integration ist schließlich keine Einbahnstraße.
Die No-Shoes-Einlasspolitik gibt es übrigens nicht nur bei Türken und Arabern, wie manche denken. Die Pantoffelkultur gilt zum Beispiel auch in Japan, China, Indien. Europa ist da gespalten. Im Land der Dichter und Denker hat der Hausschuh aber keinen besonders guten Ruf: Ein "Pantoffelheld" ist ein Mann, der sich gegenüber seiner Frau nicht durchsetzen kann. Schlappen gelten als Zeichen der Schwäche. Bei Türken ist das anders: Puschen tun der anatolischen Männlichkeit nichts ab, man(n) steht dazu.
Die Kollegin von der "Bild am Sonntag" sah sich genötigt, ein Keramikschild zu kaufen, mit der Aufschrift: "Wir freuen uns über euren Besuch, aber bitte zieht die Schuhe aus". Trotzdem (oder deswegen) musste sie mit vielen Gästen darüber diskutieren und hatte dabei, so meine Interpretation, ein ziemlich schlechtes Gewissen.
Zur deutschen Leitkultur gehört offenbar die Fußscham. Manche finden es unerhört, wenn ihnen abverlangt wird, sich untenrum frei zu machen und ihre Socken oder Füße zu entblößen. In Deutschland gelten Füße eher als Privatsphäre und Schuhe gehören zum Outfit, was sogar Knigge-Coaches bestätigen, weshalb Straßenschuhe in der Wohnung angelassen werden können und man von seinen Gästen nicht erwarten darf, dass sie sie ausziehen.
Die Schuhfrage wächst sich langsam zu einem Kulturkonflikt aus
Doch ganz so einfach ist das natürlich nicht. Die deutsche Schuhpolitik hat sich in den vergangenen Jahren ziemlich verändert - ja fast schon migrantisiert.
Inzwischen fragen die meisten Leute, wenn sie eine Wohnung betreten, ob sie das Schuhwerk ausziehen sollen - auch unter Standarddeutschen. Kritische Zeitgeister beschäftigen sich in den Feuilletons schon länger mit dem kulturellen Umbruch in Sachen Inhouse-Fußbekleidung. Nicht alle finden ihn gut.
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12.12.2019, 23:57 Uhr
Ohne Gewähr
Offenbar wächst sich die Schuhfrage langsam zu einem Kulturkonflikt aus. Ähnlich wie das Kopftuch könnte auch die Fußverhüllung zum Streitpunkt werden, an dem sich Nachbarschaften und Freundeskreise spalten. Wobei hier andere Themen aufeinanderprallen: Alltagskultur und Allzweckreiniger.
Denn der Sinneswandel liegt vermutlich weniger am Einfluss von Migranten, sondern eher am Zeitmangel zum Putzen. Und daran, dass immer mehr Menschen immer mehr Wert auf Hygiene legen. Denn Schuhsohlen bringen nicht nur Schmutz in die Wohnung, sie strotzen nur so vor Bakterien, Viren und Parasiten. Gewissermaßen zieht sich in Sachen Schuhen ein Domestos-Äquator durch die Republik.
Mir persönlich ist ja die gelassene, deutsche Einstellung à la "Dreck reinigt den Magen" viel sympathischer als die Panik vor Keimen, mit der ich aufgezogen wurde. Nur bei Straßenschuhen auf dem Teppich hört der Spaß auf. Zum Glück wohne ich auf Holzdielen. Übrigens: Das Thema wird längst auch in türkischen Feuilletons diskutiert. Offenbar lassen dort immer mehr junge Leute die Schuhe Zuhause an. Die "Verwestlichung" der Schuhkultur sehen manche kritisch. Verkehrte Welt.