"The Shining"-Fortsetzungsfilm
Stanley Kubrick vor Augen, Stephen King im Herzen
Das Dreirad, das über die endlosen Flure des Overlook Hotel rumpelt. Die unheimlichen Zwillinge. Der dramatische Showdown auf der Treppe des Colorado Room. Eine ganze Handvoll Szenen aus Stanley Kubricks legendärer Stephen-King-Verfilmung "The Shining" hat der Regisseur Mike Flanagan für seine Adaption von Kings Fortsetzung "Doctor Sleep" nachempfunden. Aber was zunächst wie ein Sakrileg wirken mag, das verwandelt Flanagan in ein überraschendes Filmvergnügen, welches nichts weniger beansprucht als das Zerwürfnis zwischen Stephen King, dem Autor der Buchvorlage, und Stanley Kubrick, dem Autor der Kinoadaption, zu überwinden.
"The Shining", das Buch um den mit übernatürlicher Wahrnehmung ausgestatteten fünfjährigen Danny Torrance und seinen neuerdings trockenen Vater Jack, der sich nach dem Rauswurf an einer Schule als Winterhauswart des einsamen Overlook Hotel über Wasser zu halten hofft, wurde von Kubrick 1980 verfilmt - sehr zum Ärger von King. Denn Kubrick hatte ein von King verfasstes Drehbuch verworfen und gegen dessen Wunsch Jack Nicholson in der Hauptrolle besetzt.
King hasste den Film. Er bezeichnete ihn als "schönen großen Cadillac ohne Motor unter der Haube", und befand Filmmutter Torrance, gespielt von Shelley Duvall, sei "eine der frauenfeindlichsten Figuren, die je im Kino aufgetreten sind."
Nein, sagt im Interview Regisseur Mike Flanagan, den Horrorfans für seine Stephen-King-Adaption "Gerald's Game" und für die Netflix-Serie "The Haunting of Hill House" schätzen, es sei natürlich keine gute Idee, den Versuch einer Versöhnung zwischen zwei Großmeistern der Popkultur zu unternehmen. Aber anders habe er sich dem Projekt schlicht nicht nähern können.
Flanagan sitzt in einer Suite des London West Hollywood Hotel am Sunset Boulevard und erzählt, dass Kubricks Film, den er einst "viel zu jung" gesehen hätte, einen enormen Eindruck bei ihm hinterlassen habe. Erst viel später habe er Kings Romanvorlage gelesen - und sei überrascht gewesen, wie sehr sich die Geschichten voneinander unterschieden hätten. "Für jemanden, der sowohl King als auch Kubrick vergötterte, schmerzte das ein bisschen", so Flanagan.
Im Video: Ewan McGregor und Rebecca Ferguson über "Doctor Sleep"
2013 ließ Stephen King der Geschichte um die Familie Torrance und das Overlook mit "Doctor Sleep" eine Fortsetzung folgen: Sie nimmt den Faden vierzig Jahre nach den Ereignissen in dem eingeschneiten Hotel wieder auf. Danny ist, wie einst sein Vater Jack, Alkoholiker und steht in einem Hospiz mit seiner übersinnlichen Begabung sterbenden Menschen zur Seite. Der "Notruf" eines ebenfalls mit dem "Shine" ausgestatteten jungen Mädchens namens Abra (Kyleigh Curran) zwingt ihn, sich dem eigenen Trauma zu stellen.
Flanagan beschreibt seine Lektüre des Nachfolgeromans als "schizophrene Erfahrung: Ich lese Stephen King, finde toll, was er mit Danny Torrance macht - aber alle Bilder in meinem Kopf sind Kubrick-Bilder!" Und so tat sich ihm die Gelegenheit auf, einen "Nachfahren" von "The Shining" zu schaffen, "der King und Kubrick als Eltern hat." Er hat außerdem Kings Segen. "Ohne seine Zustimmung", sagt Flanagan, "hätte ich den Film nicht gemacht."
Ewan McGregor spielt den erwachsenen Danny Torrance - obwohl er selbst das Ganze zunächst für "keine gute Idee" gehalten habe. Im Angesicht einer Filmlandschaft, die sich zur Risikominimierung immer stärker auf Fortsetzungen, Neuauflagen und Vorgeschichten stützt, ging McGregor davon aus, dass da jemand mit einem Sequel von Kubricks Horrorklassiker Kasse machen wollte. "Erst als mir klar wurde, dass es Stephen King selbst war, der diese Geschichte weiterführte, dachte ich mir: fair enough."
"Doctor Sleeps Erwachen"
USA, UK 2019
Regie: Mike Flanagan
Drehbuch: Mike Flanagan, basierend auf dem Buch von Stephen King
Darsteller: Ewan McGregor, Rebecca Ferguson, Kyliegh Curran
Produktion: Warner Bros., Intrepid Pictures, Vertigo Entertainment
Verleih: Warner Bros.
Länge: 152 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Start: 21. November 2019
Aber erst das Gespräch mit Flanagan habe ihn gänzlich überzeugt. "Es gab hier offenbar Raum, um jenseits des puren Grusels etwas zu thematisieren", sagt er. "'The Shining' war die Story eines Alkoholikers, Jack, und diese ist die von Danny, der mit einem Alkoholikervater aufwuchs." Dass ihn der Stoff gereizt habe, habe auch mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun: In ihrem Herzen sei dies eine Geschichte um den Kampf gegen die Sucht, findet McGregor, der selbst vor fast zwanzig Jahren dem Alkohol entsagte. "Ich glaube zwar nicht, dass Alkoholiker schlechte Menschen sind und nüchterne Leute gute. Aber es geht schon darum, seine Dämonen zu zähmen."
Von einer sonderbaren Sucht sind auch die Antagonisten von "Doctor Sleep" besessen: Ein Hippie-Trupp unter Anführerin Rose The Hat (Rebecca Ferguson, die McGregor glatt die Schau stiehlt) berauscht sich hier an der Todesangst übersinnlich begabter Kinder. Danny ist bald selbst in den Kampf gegen die langlebigen Vampire verwickelt, und der Showdown zeichnet sich in eben jenem Overlook Hotel ab, das Schauplatz von "The Shining" war.
Im Video: Der Trailer zu "Doctor Sleeps Erwachen"
Flanagan verwebt die Widersprüche zwischen Kings Ursprungsroman und Kubricks Verfilmung (Fans werden sich erinnern, dass am Romanende das Hotel in Schutt und Asche lag) erstaunlich elegant. An manchen Stellen wird der Umgang mit dem Originalstoff - das Kubrick-Estate stellte Flanagan die Blaupausen des Overlook Hotels sowie einiges Originalmaterial zur Verfügung - unter Fans nicht nur Zustimmung finden. Aber Flanagan gelingt sein Unterfangen über weite Strecken überraschend gut, sowohl erzählerisch als auch visuell.
Den Fans bietet "Doctor Sleep" zahlreiche Hommagen nicht nur an Kubricks Film sondern auch an Kings Buch; Unbeleckte dürften sich von einem spannenden Horrorfilm mit denkwürdigen Figuren gut unterhalten fühlen.
In den frühen Kritiken von "The Shining", die dem Film zunächst mehrheitlich skeptisch gegenüberstanden, war mitunter von der intellektuellen Kälte die Rede, die der emotionalen Wärme von Kings Roman gegenüberstehe. Flanagan steht hier ganz auf Seiten Kings - nicht zuletzt insofern, dass "Doctor Sleep" noch einem weiteren Fixpunkt von Stephen King Reverenz erweist: der Frage nämlich nach dem Tod und dem Danach.
"Ich glaube, King ist optimistisch", sagt Mike Flanagan. Und so gipfelt, wiewohl "The Shining" ein durch und durch pessimistisches Stück war, "Doctor Sleep" in einer unerwartet zuversichtlichen Note.