Mit Kraftklub durch Chemnitz
Kopfüber feiern mit Karl Marx
20.30 Uhr: "Lass uns bei Emmas Onkel treffen", hat Kraftklub-Sänger Felix Brummer vor wenigen Minuten getextet. Jetzt sitzen der Fotograf und ich nicht bei irgendeinem Verwandten, sondern in einer Kneipe, die so heißt, und warten auf ihn und Bandkollegen Steffen Israel. Ihr zweites Album trägt den Namen "In Schwarz", und genauso betreten die beiden dann auch den Laden. Steffen trägt eine große Brille, die beim Eintritt in die Kneipe sofort beschlägt. Der Gitarrist sieht jetzt ein wenig aus wie eine Fliege im Nebel. "Ja, ja, lacht nur", sagt er und bestellt Bier: Es ist der Auftakt eines feuchtfröhlichen Abends.
21.12 Uhr: "Emmas Onkel" liegt in Kaßberg, einem Teil von Chemnitz, der mit seinen Jugendstilvillen auf den ersten Blick nicht wie eine angesagte Ausgehmeile wirkt. Alle Kraftklub-Mitglieder sind Mitte 20 und wohnen hier. Hätten sie nicht mal Lust, wegzuziehen aus ihrer Heimatstadt, auch wenn ihr erfolgreichster Song "Ich will nicht nach Berlin" heißt? Auf keinen Fall, sagt Felix, schon gar nicht in die Hauptstadt: "Ich will nicht an einen Ort, der irgendwie hip ist. Da habe ich keinen Bock drauf, ich bleibe lieber in einer Stadt, die nie angesagt war." Die Vorteile liegen für ihn auf der Hand: "Wenn du etwas Cooles auf die Beine stellst, stehen die Chancen gut, dass du damit der Erste und Beste bist." Die zweite Runde ist fast aufgetrunken, es wird erörtert, wie der Abend weitergehen kann. "Fußmarsch ins 'Aaltra'?", fragt Felix. "Super Sache", antwortet Steffen und organisiert noch Bier für unterwegs, Fußpils nennt er das. Er macht den Gag immer und überlegt, ein Geschäft damit aufzuziehen: Bier in kleineren Flaschen, denn die letzten Schlucke aus der Halbliterpulle schmecken immer lau, wenn sie beim Laufen durchgeschüttelt wurden.
21.45 Uhr: Die 250.000-Einwohner-Stadt wirkt wie ausgestorben, man trifft nur eine Frau, die mit ihrem Hund Gassi geht. Wo sind eigentlich die 11.000 Studenten, die an der Technischen Universität eingeschrieben sind? "Ach, die versammeln sich auf ihrem Campus weit draußen. Machen ihre eigenen Partys, bleiben unter sich." Es gelingt Chemnitz nicht so gut, das studentische Leben in die Stadt zu integrieren. Auch die Hauptstraße ist wie leer gefegt, Felix und Steffen setzen sich direkt auf den Mittelstreifen. "Anderswo wäre das ein Extremsport, hier ist es nicht einmal schlimm, wenn du einschläfst", sagt Felix. Klar, es kann niederschmetternd sein, hier zu wohnen, wenn man jung ist und etwas erleben will. Aber dass viele wegrennen, sobald sie können, verstehen die Kraftklub-Jungs nicht. Steffen sagt: "In Chemnitz billig wohnen und den Unterschied machen oder für 'ne ranzige Bude in Berlin viel Geld bezahlen und in der Masse untergehen - wir haben uns für die erste Variante entschieden." Felix folgt da einer Familientradition. Sein Vater war 1986 einer der Gründer von AG Geige, einer Electro-Rockband, die zu DDR-Zeiten seltsame Kunstmusik spielte. Nach der Wende etablierte sich Felix' Vater als Künstler und eröffnete in Chemnitz mit dem "Atomino" einen Musikklub, den es immer noch gibt. Auch Kraftklub will die Stadt voranbringen: Die Band veranstaltet nun schon im dritten Jahr das Kosmonaut-Festival mit sich selbst als einem der "Headliner".
22.00 Uhr: Die Straße nimmt eine Kurve, und plötzlich blickt man vom Kaßberg, der dem Viertel den Namen gibt, auf das Zentrum der Stadt hinab. "Hier steht man im Sommer, trinkt und schaut", sagt Steffen. 100 Meter weiter die Straße runter wird gedrängelt. Das Aaltra ist eine Kneipe, die an manchen Abenden zum Liveclub wird. Heute spielen The Gentle Lurch aus dem benachbarten Dresden, eine Band, die Country-Musik spielt, wie sie in Filmen von Quentin Tarantino vorkommen könnte: gespenstisch und vernebelt. Der Laden ist ausverkauft. An der Tür möchten sie eigentlich keinen mehr reinlassen, machen aber eine Ausnahme, als sie Felix und Steffen erkennen. "Ihr kommt in Chemnitz doch überall rein", sagt der Türsteher.
22.12 Uhr: Die Kraftklub-Jungs erhöhen die Schlagzahl: Von jetzt an gibt es vor jedem Bier einen Schnaps, vorzugsweise Wodka mit Gurke. Man darf im "Aaltra" rauchen, die meisten Gäste nehmen das als eine sportliche Herausforderung. Felix hingegen will sich die Zigaretten abgewöhnen. "Nicht wegen der Stimme, die leidet eigentlich nicht. Aber irgendwie denke ich, dass es auch ohne gehen muss. Ich mag es nicht, abhängig zu sein." Für die Übergangszeit soll eine Elektrozigarette genügen.
22.41 Uhr: Felix nickt Richtung Bühne: "Das ist schon gut, aber es macht einen traurig." Er höre fast nur Musik, die nach vorne geht. Laut und gewaltig. Seine großen Helden seien Rammstein. "Diese Band hat eine vollkommen neue Sprache und Musik erfunden. So etwas gab es in Deutschland vorher nicht - und es ist trotzdem irgendwie so cool deutsch, dass die Amerikaner es lieben." Der Moment, als Rammstein die Chemnitzer einluden, im Vorprogramm zu spielen, war für Kraftklub die Initialzündung. "Von da an wussten wir, dass was gehen wird", sagt Felix.
23.30 Uhr: Den Kaßberg hinunter in Richtung Innenstadt, eine Abkürzung durchs Gebüsch - der normale Weg ist laut Felix nur was für die Braven. Ziel ist das Weltecho, ein Kulturzentrum mit Kinos, Galerien und Klubs. An den Wochenenden gibt es hier die besten Partys der Stadt, bunte Mischungen aus HipHop und Electronica, hartem alternativem Rock und Indiepop. Wenn Kraftklub tanzen gehen, fangen sie bei den Electro-Floors an. "Am Ende landen wir aber immer auf den Gitarrenpartys und liegen uns grölend bei Oasis in den Armen", sagt Felix. Auch das ist ein Grund, warum er das Lied "Songs für Liam" geschrieben hat.
23.56 Uhr: Am Wochenende boomt das "Weltecho", an diesem Donnerstag kurz vor Mitternacht sieht es jedoch ziemlich ausgestorben aus. "Scheiße, schon zu", sagt Steffen, steigt aber trotzdem die Treppen nach oben. "Wenn hier noch wer trinkt, dann unterm Dach." Ab dem ersten Treppenabsatz hört man Musik, die klingt, als springe eine Schallplatte. Dann ist der Spuk vorbei, vereinzeltes Klatschen. Steffen strahlt: "Geil, da geht ja wirklich noch was." Die Musik kommt von einem belgischen Duo namens The Antler King. 20 Leute fläzen auf Sofas, genießen die spiralförmigen Lieder der Schlagzeugerin und des Gitarristen. Auch Felix und Steffen hauen sich hin, merken aber schnell, dass diese hypnotisierende Musik zwar nicht traurig macht, aber ziemlich müde. "Hier gibt's was Schönes", sagt Steffen. Er springt auf und kommt mit Schnapsgläsern wieder, gefüllt mit giftgrünem Zeug, das so gesund aussieht wie in Säure aufgelöste Gummibärchen. Schmeckt nach Pfefferminzlikör. "Trink mal drei Stück davon, dann dreht sich die Welt." Nach dem zweiten Glas hat das belgische Duo das Konzert beendet, und die Leute im "Weltecho" möchten Feierabend machen. Ein Taxi, bitte.
01.00 Uhr: Keine Nacht in Chemnitz ohne einen kurzen Besuch beim alten Marx. Eine monumentale Plastik, mit Sockel mehr als 13 Meter hoch. Nur eine Lenin-Büste in Sibirien ist noch größer, weiß der Taxifahrer, der übrigens nichts Schlechtes über Marx erzählen will: "Man muss ihn nur zu lesen wissen." Felix und Steffen waren Babys, als die Mauer fiel. Die DDR kennen sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Aber über die Kindheit und Jugend in einem der "neuen Länder" können sie eine Menge erzählen. "Früher kam es vor, dass vor unserem Jugendklub ein Auto mit zugeklebtem Nummernschild anhielt, drei Faschos ausstiegen, wahllos zwei Typen verkloppten und sich verpissten", sagt Felix.
01.45 Uhr: Alte Kraftklub-Weisheit: Wenn man nichts Neues findet, einfach dorthin zurückkehren, wo es am schönsten war. Das "Aaltra" ist noch geöffnet, hat sich mittlerweile aber ziemlich geleert. Nur an der Theke ist es noch voll. Felix und Steffen tauchen in einer größeren Gruppe unter, die Kreativszene von Chemnitz ist noch wach: Webdesigner, Kulturveranstalter und Musiker, darunter Mitglieder der Chemnitzer Gitarrenrockband Playfellow, die auf der anstehenden Kraftklub-Tour durch die großen deutschen Hallen ein paar Konzerte im Vorprogramm spielen wird. "Man kennt und schätzt sich", sagt Felix. "Neid gibt es da nicht. Jeder, der es schafft, übernimmt danach die Rolle als Türöffner."
02.12 Uhr: Steffen bleibt noch, der Thekenchef schneidet eine neue Gurke für den Wodka an. Felix bricht auf: "Muss ja auch mal gut sein." Es fällt auf, das der lange Kerl mit dem bekannten Gesicht während der ganzen Nacht nicht ein einziges Mal komisch angequatscht wurde. Und auch ein Selfie wollte keiner. "Ziehe ich durch Berlin-Mitte, ist das für mich wie eine einzige Flucht", sagt er. Das klingt wie eine Zeile aus einem Kraftklub-Lied.
Kosmonaut-Festival
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Ausgabe 2/2015
Gianis und die Groupies
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