Brexit-Verschiebung
Am 23. Mai muss Schluss sein

Union Jack und EU-Flagge vor dem britischen Parlament
Warum sollte man den Brexit überhaupt verschieben? Das fragen sich derzeit viele in der EU, von Chefunterhändler Michel Barnier über Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bis hin zu EU-Ratspräsident Donald Tusk. Ihre Sorge: Die britische Politik ist so zerrissen, die Lage im Londoner Parlament derart chaotisch, dass eine Verlängerung um wenige Wochen sowieso nichts bringe.
Umso überraschender ist deshalb, dass die EU nun offenbar eine Verschiebung des Brexit-Termins vom 29. März auf den 1. Juli erwägt - und nicht nur bis zur Europawahl am 23. Mai. Ein solcher Schritt wäre verantwortungslos - denn die EU würde ein erhebliches Risiko eingehen, sich selbst ebenso zu lähmen und vor aller Welt lächerlich zu machen, wie es die britische Politik gerade tut.
Eigentlich müssten die Briten die EU spätestens bis zur Europawahl verlassen. Alles andere würde gegen die EU-Verträge verstoßen, die vorschreiben, dass jedes Mitgliedsland an der Wahl teilnimmt. Da das neue Europaparlament aber erst am 2. Juli erstmals zusammentritt, halten viele in Brüssel und in den EU-Hauptstädten eine Verlängerung bis zum 1. Juli für unbedenklich.
Wenn sie sich da nicht mal irren.
Denn sollten die Briten zwischen der Europawahl und dem 1. Juli ihren Austrittsantrag einseitig zurückziehen - was sie jederzeit können -, wäre das für die EU eine Katastrophe. Das Europaparlament müsste ohne britische Abgeordnete zusammenkommen, obwohl Großbritannien weiterhin EU-Mitglied ist. Alle Entscheidungen des Parlaments wären nach Meinung von Juristen angreifbar, darunter die Wahl der neuen Kommission und ihres Präsidenten. Womöglich müsste am Ende sogar die Europawahl wiederholt werden.
Für die EU wäre es ein Albtraum, sie wäre vollständig gelähmt - und die Briten wissen das. Deshalb könnten sie die EU in der Phase zwischen der Europawahl und dem 1. Juli auch vorzüglich mit der Drohung der Austrittsrücknahme noch Zugeständnisse herauspressen.
Alles unwahrscheinlich? Vielleicht. Andererseits halten selbst Insider inzwischen kaum noch etwas für unmöglich in Sachen Brexit. Zudem spricht durchaus einiges für das obige Szenario:
- Eine britische Teilnahme an der Europawahl ist schwer vorstellbar, nicht nur für führende EU-Politiker. Auch die britische Premierministerin Theresa May wird diesen Weg kaum gehen wollen, schon um den Eindruck zu vermeiden, den Brexit auf ewig verschieben zu wollen.
- Es bestehen massive Zweifel, dass sich die Briten bis Ende Juni plötzlich doch noch darauf einigen, wie der Brexit und das künftige Verhältnis zur EU aussehen soll.
Großbritannien stünde dann wenige Tage vor dem endgültigen Brexit-Tag vor der Entscheidung: No Deal oder Notbremse? Ungeregelter EU-Austritt mit verheerenden Folgen oder Rücknahme des Austrittsantrags in letzter Sekunde?
Vieles spräche in einer solchen Situation für Letzteres. Zum einen müsste May - oder wer immer dann Premierminister ist - die Notbremse sogar ziehen, wollte sie das jüngste Votum des Unterhauses gegen ein No-Deal-Szenario respektieren. Zum anderen wäre der Brexit damit nicht einmal vom Tisch: Die britische Regierung könnte den Austrittsantrag später erneut stellen.
Und was tut die EU-Führung? Bezweifelt einerseits den Sinn einer Verlängerung um wenige Wochen, da eine Last-minute-Einigung im britischen Parlament unwahrscheinlich sei. Will aber andererseits nun eine Verlängerung anbieten, die genau auf ein solches Wunder setzt. Das erscheint nicht nur widersprüchlich, sondern angesichts der Risiken geradezu irre - egal, wie wahrscheinlich ihr Eintreten ist.
Die EU wäre gut beraten, wenn sie der britischen Regierung so schnell wie möglich klarmachte: Am 23. Mai ist Schluss.