Debatte über Vertragsänderungen
Wettlauf der Vorzeige-Europäer

Europaflagge bei der Lissabon-Zeremonie: Neuer Vertrag, neues Europa?
Berlin - Die Grünen sagen, sie hätten die Idee schon lange gehabt. Die FDP will auch ganz früh mit dabei gewesen sein. Und die CDU macht plötzlich ganz besonders Druck. Der Ruf nach einem neuen Europäischen Konvent ist in diesen Tagen unter Politikern hierzulande äußerst populär, wenn es um die Zukunft des Kontinents geht. Der Konvent, zusammengesetzt aus Vertretern der nationalen Parlamente und Regierungen, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, soll schnellstmöglich die derzeit gültigen Europäischen Verträge überarbeiten. Denn ohne grundlegende Vertragsänderungen, so die weitverbreitete Meinung, lasse sich die Krise des Euro, die längst eine Krise der Europäischen Union ist, nicht nachhaltig bewältigen.
Das hat zum Beispiel die Kanzlerin gesagt. Als Angela Merkel (CDU) jüngst beim Treffen mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy ein Gesamtpaket zur Lösung der Euro-Krise ankündigte, erklärte sie: "Dies wird auch Vertragsänderungen mit einschließen." Diese seien "im Interesse eines handlungsfähigen, demokratischen und transparenten Europas", heißt es dazu passend im Entwurf des europapolitischen Grundsatzpapiers für den CDU-Parteitag im November. "Es führt kein Weg daran vorbei", schreibt auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) im "Tagesspiegel". "Eine wirksame Änderung der Stabilitätsregeln führt über eine Änderung der Verträge."
Die Grünen sehen das genauso. Wobei deren Chef Cem Özdemir spottet, "dass nun offenbar auch bei den ersten Vertretern von Union und FDP europapolitische Vernunft einkehrt". Wie die CDU widmen auch die Grünen Europa einen Leitantrag für ihr Bundestreffen in einigen Wochen. Sie wollen "ein neues Kapitel" aufschlagen und deutlich machen, "warum wir mehr und nicht weniger Europa brauchen". "Wir brauchen einen neuen Vertrag zwischen Brüssel und seinen Bürgerinnen und Bürgern, um die notwendigen, tiefgreifenden Reformen zu diskutieren und auf den Weg zu bringen", sagt Özdemir. Und auch Martin Schulz, SPD-Fraktionschef im Europaparlament, sagt im Deutschlandfunk: "Wir brauchen Vertragsänderungen."
Der Wettlauf ins neue Europa hat begonnen - und die Deutschen wollen ganz vorne mit dabei sein. Dumm nur, dass die ganze EU dabei mit ins Ziel laufen muss. Mancher hat aber gar keine Lust, sich überhaupt aus dem Startblock zu stemmen und Merkel hinterherzurennen. David Cameron etwa, der britische Premier, ließ gerade erst wissen, dass Vertragsänderungen nicht auf der Tagesordnung stünden. Und wenn sie in ferner Zukunft einmal angegangen würden, dann nicht, um Macht nach Brüssel abzugeben, sondern um sie sich zurückzuholen, machte er klar. Österreichs Außenminister Michael Spindelegger will nicht einsehen, dass sich Deutschland und Frankreich einigen und alle "nachhüpfen". Vertragsänderungen würden "jetzt nichts helfen". Auch Irlands Ministerpräsident Enda Kenny winkt ab. Europa sollte mit dem weitermachen, was es habe, sagte Kenny in dieser Woche.
Gerade in seinem Land sind die Erinnerungen an den mühsamen Verhandlungsprozess, der zum Vertrag von Lissabon führte, noch sehr frisch. Auch dieser Prozess hatte Anfang 2002 mit einem Europäischen Konvent begonnen, der einige Monate später einen Vorschlag für eine Europäische Verfassung vorgelegt. Diese wurde von den Staats- und Regierungschefs zwar unterzeichnet, scheiterte aber bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. An die Stelle der Verfassung trat der Vertrag von Lissabon. Auch dessen Ratifizierung verzögerte sich, diesmal brauchte es zwei Referenden, genau, in Irland. Erst am 1. Dezember trat der Vertrag von Lissabon in Kraft - fast acht Jahre nach Einberufung des Konvents.
Da erscheinen die Zielmarken von CDU und FDP sehr ambitioniert. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe und Außenminister Westerwelle glauben, binnen eines Jahres beschlussfähige Vertragsänderungen vorlegen zu können. Wie aber sollen die überhaupt aussehen? Wie soll die EU krisenfest gemacht werden? "Vieles ist vorstellbar", sagt Westerwelle. "Vorschläge liegen auf dem Tisch." Die konkretesten Vorstellungen hat bisher die CDU vorgelegt, einige davon macht sich auch Westerwelle zu eigen. Im Parteitagsantrag fordern die Christdemokraten unter anderem:
- ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof bei Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt.
- schärfere Sanktionen gegen notorische Schuldensünder - vom Stimmrechtsentzug bis zur Einsetzung eines EU-Sparkommissars.
- ein mehrstufiges Restrukturierungsverfahren für Staaten in haushaltspolitischer Schieflage. Bei Zahlungsunfähigkeit soll ein EU-Sparkommissar weitreichende "Durchgriffsrechte" auf die Finanzpolitik des betroffenen Landes erhalten.
- mehr Handlungsfähigkeit: Wo bei Abstimmungen in den EU-Ministerrunden bisher noch Einstimmigkeit gefordert ist, soll künftig die qualifizierte Mehrheit reichen.
- eine eigene Euro-Kammer beim Europaparlament, in der die Europaabgeordneten der Euro-Staaten sitzen.
- die Weiterentwicklung des geplanten Dauer-Rettungsfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds.
Die Grünen bleiben in ihrem Papier allgemeiner. Sie fordern eine Fiskal- und Wirtschaftsunion, weniger "Hinterzimmerdiplomatie" und mehr Bürgernähe. Dafür will die Partei unter anderem
- die Kommission zu einer Wirtschaftsregierung weiterentwickeln - kontrolliert vom Europäischen Parlament.
- das in der EU-Grundrechtecharta verankerte Recht auf soziale Sicherheit "mit Leben" erfüllen.
- Kommissionspräsidenten und Ratspräsidenten in einem Amt vereinen und von den Bürgern zeitgleich zu den Europawahlen direkt wählen lassen.
An schönen Ideen mangelt es also nicht. Doch nicht nur in der EU gibt es Widerstand, auch in den Reihen der schwarz-gelben Koalition sind längst nicht alle scharf auf schnelle Vertragsänderungen. Die CSU sträubt sich gegen die Rufe nach "mehr Europa", in der FDP steht ein von den Europ-Skeptikern angestoßener Mitgliederentscheid über den künftigen Kurs an. Es sei völlig offen, ob die Koalition den Vorstoß für einen Konvent geschlossen mittragen würde, glaubt Grünen-Chef Özdemir und mahnt: "Europas weiterer Weg kann aber nicht von einer bayerischen Regionalpartei und einer kriselnden FDP abhängen."
Klar ist: Merkel hat viel Überzeugungsarbeit zu leisten - wenn sie es mit einer grundsätzlichen EU-Reform wirklich ernst meint. Schon im Oktober vergangenen Jahres hatte die Kanzlerin bei einer Rede auf dem Unternehmertag des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen betont, dass Vertragsänderungen für sie von "immenser Wichtigkeit" seien - und zwar bis 2013. Um das angesichts der langwierigen Ratifizierungsverfahren zu schaffen, müsse man schnell damit anfangen, da sei sie sich mit dem französischen Präsidenten einig. Damals befand Merkel, dass die Änderungen bis März 2011 vorliegen sollten.
Mitarbeit: Florian Gathmann