Völkermord-Debatte
Das größte Verbrechen überhaupt?
Seit Wochen diskutiert Deutschland über den Massenmord an den Armeniern im Osmanischen Reich und nun auch über die Ermordung Zehntausender Hereros durch die deutsche Kolonialmacht. Es geht um politische Bekenntnisse, historische Wahrheit und juristische Fragen des Völkerrechts. Doch die Diskussion ist problematisch: Durch die Fixierung auf den Begriff des Völkermords wird die fragwürdige Hierarchie in der Beurteilung historischer Verbrechen zementiert, nach der Völkermord das größte Verbrechen überhaupt sei, das "Crime of Crimes", grausamer, verurteilungswürdiger, "schlimmer" als andere Massenmorde der Geschichte. Im Umkehrschluss ist in der Debatte geradezu der Eindruck entstanden, dass die Ermordung von anderthalb Millionen Armeniern weniger schlimm gewesen wäre, wenn sie von der historischen Forschung nicht als Völkermord qualifiziert würde.
Entscheidend ist die Absicht
Nach internationalem Völkerrecht ist der Völkermord eine besondere Form der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sie wurden 1945 im Londoner Statut für die Nürnberger Prozesse festgelegt, der Völkermord kam erst 1948 als Straftatbestand hinzu. Jeder Völkermord ist demnach ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber nicht jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein Völkermord. Entscheidend für den Genozid ist die Absicht, eine Nation, Ethnie, Rasse oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Die fast vollständige Ausrottung der nordamerikanischen Indianer gilt daher nicht als Völkermord, nur weil sie nicht in der erklärten Absicht geschah, die Indianervölker zu vernichten.
Schon die Qualifizierung von Völkermord als besonders schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist fragwürdig. Warum sollten etwa die Verbrechen Stalins weniger zu verurteilen sein, die Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsschicht in der Entkulakisierung, der Große Terror, die mörderische Zwangsumsiedlung ganzer Ethnien, wie der Tschetschenen und Tataren durch die Sowjetmacht während des Zweiten Weltkriegs, der Hungertod von Millionen Ukrainern während des "Holodomor"? Warum die Verbrechen Maos in der Kulturrevolution oder die Ermordung von womöglich mehr als zwei Millionen Kambodschanern durch Pol Pots Rote Khmer?
Es geht keinesfalls darum, den Holocaust zu relativieren, der eindeutig als absichtsvoller Völkermord nachgewiesen werden kann. Aber wenn sich die Diskussion im Falle der Armenier oder Hereros zunehmend darauf verengt, ob die Absicht, ein Volk zu vernichten, historisch nachgewiesen werden kann, droht das eigentliche Verbrechen, die massenhafte Ermordung von Menschen, aus dem Blick zu geraten. Im Grunde macht man sich mit der Fixierung auf ethnisch definierte Opfer im Umkehrschluss die rassistische Logik der Täter zu eigen. Massenmord ist gleichermaßen zu verurteilen, egal, ob eine Ethnie absichtsvoll vernichtet werden soll oder ob sie aus Verachtung, ideologischer Verblendung oder Habgier vernichtet wird, egal ob es sich bei den Opfern um Angehörige eines Volkes, einer Religion, einer sexuellen Orientierung oder einer gesellschaftlichen Klasse handelt oder einfach nur um Menschen.
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